Welche Bedeutung hat die Chemie für Sie?
Warum ich mich entschieden habe, Chemie zu studieren … ich hatte immer ein Interesse an naturwissenschaftlichen Inhalten (um es einmal so auszudrücken) und an kreativen Tätigkeiten. Neben der Chemie beschäftige ich mich z.B. auch mit Musik, wobei es hier einige interessante Parallelen gibt: in beiden Bereichen braucht es die notwendigen Techniken / Fertigkeiten, aber auch eine Portion „feeling“ (welches dann natürlich jeweils anders ist). Letztlich ist mir aber die Wahl, Chemie professionell zu machen, nicht schwergefallen.
Die Errungenschaften der Chemie – auch stellvertretend für andere Wissenschaften genannt – haben uns in vielen Bereichen das Leben erleichtert. Chemie war immer und ist Teil unseres Alltags; ohne Chemie hätten wir nicht die Metalle, Kunststoffe, Halbleiterbauelemente usw., die uns Handys, Laptops, Tablets bauen lassen, selbst die Reihenfolge der Schritte in Kochrezepten wird letztlich von der Chemie vorgegeben. Gleichzeitig macht das aber auch viele Bereiche unseres Lebens komplizierter.
Jede*r von uns verwendet heute Technologien, die sie*er nicht versteht und in der Fülle auch gar nicht mehr verstehen kann. Wir verlassen uns darauf, dass die Technologie das macht, was wir von ihr wollen. Problematisch wird es dann, wenn etwas nicht mehr funktioniert, wenn Entscheidungen zum Einsatz von Technologien getroffen werden müssen, deren Auswirkungen nicht immer vollständig absehbar sind. Die Chemie hat lange unter einer schlechten öffentlichen Wahrnehmung gelitten, wahrscheinlich bedingt durch schwere Unfälle und Berichte über Umweltverschmutzung. Dieses Bild hat sich in der letzten Zeit zum Glück zum Positiven verändert, und es gibt ja in Wahrheit kaum jemanden, der die Errungenschaften der Chemie missen möchte, von den alltäglichen Anwendungen wie oben genannt bis hin zu Medikamenten, die uns auch schwere Krankheiten immer öfter heilen lassen.
Ich denke, dass jeder Mensch zumindest ein chemisches Grundverständnis haben sollte – man braucht nur einmal durch Supermärkte, Baumärkte und Drogerien gehen und sich ansehen, was man da alles kaufen kann. Da sind Produkte mit Inhaltsstoffen dabei, mit denen wir im Labor im Abzug arbeiten. Noch heikler wird es bei der Kombination von Produkten: schütten Sie beispielsweise die „falschen“ Haushaltsreiniger zusammen, z.B. weil sich irgendein Dreck beim besten Willen nicht entfernen lassen will, riskieren Sie z.B. die Freisetzung von Chlor. Das steht auf den Packungen schon drauf, aber – Hand aufs Herz – wer liest denn das Kleingedruckte schon, und wieviele Menschen sind sich dieser Tatsache danach auch wirklich bewusst?
Was hier im Kleinen gilt, betrifft uns derzeit auch global: die Covid-Situation hat momentan die ganze Welt im Griff. Innerhalb weniger als eines Jahres wurde hier eine enorme Datenbasis geschaffen, die wenig überraschend auch viel Widersprüchliches beinhaltet. Ein naturwissenschaftliches Grundverständnis, die Fähigkeit, Daten zu bewerten und auch gegeneinander abzuwägen, und letztlich sich darauf eine fundierte Meinung zu bilden, ist sehr schwer. Es ist daher kein Wunder, dass sich Gefühle der Hilflosigkeit, aber auch des Abblockens (Leugnens) breit machen, dass Diskussionen sehr schnell auf einer ideologischen Ebene landen, wo sie nicht hingehören, und dass sich viele bevormundet fühlen, weil sie Maßnahmen nicht verstehen (können) und daher der Nutzen nicht klar ist (wobei das auch ein kommunikatives Problem ist).
Dies soll jetzt keine Kritik an der „breiten Masse“ sein, sondern unterstreichen, wie wichtig Chemie und wissenschaftliche Erkenntnisse generell in unserem Alltag geworden sind. Ich halte es daher für unabdingbar, bereits in der Schule das Grundverständnis für diese Wichtigkeit aufzubauen, Fächern wie Chemie den Schrecken und den Nimbus des Abgehobenen und Undurchschaubaren zu nehmen, stattdessen das Interesse daran zu wecken, den Nutzen, die Chancen zu zeigen, aber auch auf die selbstverständlich bestehenden Risiken hinzuweisen. Es geht dabei nicht darum, alle Menschen zu Chemiker*innen zu erziehen, sondern Ihnen die Fähigkeit zu geben, wissenschaftliche Ergebnisse anzuerkennen, frei von Ideologie zu bewerten und den Nutzen für einen selbst zu erkennen.
Was bedeutet die Lehre für Sie und was sind dabei die größten Herausforderungen für Sie?
Ich habe mir erlaubt, die Fragereihenfolge umzudrehen, da sich die Bedeutung der Lehre für mich aus der Bedeutung der Chemie selbst ergibt – ein paar Aspekte dazu habe ich ja bereits oben genannt. Ich denke, bei der ersten Frage bereits deutlich gemacht zu haben, dass ein Fach wie Chemie ohne Wissenserwerb undenkbar ist; für uns Lehrende gilt es nun, das notwendige Wissen so zu vermitteln, dass für die Studierenden dieser Wissenserwerb möglich ist und erleichtert wird (okay, wann ist das Fach Chemie denn wirklich „leicht“?).
Dazu gibt es verschiedene Techniken, deren Aufzählung im Detail an dieser Stelle den Rahmen sprengt; grob gesagt beginnt es mit der sinnvollen Strukturierung des Lernstoffs, was nicht nur für die Gliederung, sondern auch für den Ablauf der Inhalte gilt.
Die aktuelle Situation hat uns neben der Herausforderung, Kurse innerhalb weniger Tage auf völlig neue (digitale) Formate umzustellen, auch „gezwungen“, neue Medien verstärkt einzusetzen. Z.B. habe ich für das Physikalisch Chemische Praktikum einige Experimente digitalisiert, wozu die Bereitstellung von Datensätzen, neuen Skripten und auch Videos notwendig wurde. Gerade letztere sind in der Erstellung extrem zeitintensiv: mindestens ein ganzer Nachmittag vor Ort zum Drehen der Szenen; eine Vorlesung kann man in einem Take aufzeichnen (was beim Streamen ja auch gemacht wird), aber bei einem Experiment hat man sehr schnell ca. 100 Einzelszenen oder noch mehr beisammen, die dann gesichtet, geschnitten und in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden müssen. Dazu kommen dann noch Grafiken, z.T. auch Animationen, voice over, etc. Für ein halbstündiges Video kann man da gut und gern eine ganze Woche Arbeit rechnen, bei komplexen Themen auch schon mal das Doppelte.
Umgekehrt eröffnet das Medium Video auch ganz neue Möglichkeiten: Animationen erlauben es, Vorgänge in einem Experiment viel deutlicher (und mitunter auch besser) darzustellen, als an der Tafel jemals möglich ist, da Bewegungen und zeitliche Verläufe eben nur in einem bewegten Medium als solche dargestellt werden können. Das heißt aber nicht, dass das Unterrichten vor Ort dadurch obsolet wird – im Gegenteil: Schifahren kann man auch nicht nur von Videos lernen, sondern man muss raus auf die Piste.
Genauso ist es in der Chemie: man muss rein ins Labor. Dort wendet man die theoretischen Inhalte an, dort bekommen sie mitunter überhaupt erst eine Bedeutung (so mancher Begriff, so manches Konzept wird dann erst klar), dort lernt und trainiert man den Umgang mit Geräten. Ich halte den hohen praktischen Anteil in unserem Curriculum für eine Notwendigkeit und eine Stärke der Ausbildung an der Universität Wien. Die nun (zugegeben auch etwas zwangsweise) erworbenen Erkenntnisse im Bereich der digitalen Medien sehe ich hier als eine sehr wertvolle Unterstützung, die ich auch in Zukunft nicht missen möchte. Ich habe daher die Videos von vornherein so konzipiert, dass sie auch in Zukunft weiter verwendet werden können, als weiteres Hilfsmittel für die Studierenden bei der Vorbereitung auf den Labortag – immerhin kann man da Messgeräte bereits in Aktion zeigen, und so mancher Absatz aus einem Skript ist durch die visuelle Unterstützung plötzlich viel klarer. Auch Gerätemanuals haben wir teilweise bereits als Kurzvideos, was dem aktuellen Trend in diese Richtung entspricht. Diese Entwicklung wird uns aber noch eine Weile beschäftigen.
Eine Herausforderung hat die Distanzlehre aber sicher gebracht, und ich denke, diese gilt für Lehrende und Studierende genauso:
man spricht z.B. in Seminaren und Tutorien de facto mit einem Computerbildschirm. Kamerabild gibt es mit Ausnahmen nicht, um den Datenverkehr nicht zu überlasten. Aus der Sicht eines Vortragenden ist es dann unangenehm, wenn es plötzlich minutenlang am anderen Ende der Leitung totenstill ist. Auch aus diesem Grund halte ich die online Kurse möglichst interaktiv – selbst mit banalen Fragen, um zu verhindern, dass so ein online Kurs zu einer obskuren Einbahnstraße wird.
Was ebenso fehlt ist das unmittelbare feedback – als Vortragender erkennt man an der Körpersprache der Zuhörenden, ob eine Erklärung ankommt oder nicht und kann im Hörsaal sofort darauf reagieren. Das geht online unter den genannten Umständen nicht.
In Seminaren, wo Inhalte von den Studierenden vor Ort produziert werden sollen, fällt genau dieser Aspekt weg: man präsentiert ausgearbeitete Unterlagen. Das ist kurzfristig für die Studierenden sicher angenehmer, aber langfristig ergibt sich daraus der Nachteil, dass das aktive Produzieren der Inhalte in einer Art Prüfungssituation wegfällt – spätestens bei der Abschlussprüfung kann sich dies nachteilig auswirken. Um dem entgegenzuwirken, müßten wir aber alle Studierenden mit Grafik-Tablets ausstatten...
Umgekehrt erlaubt die Etablierung von online Konferenztools eine sehr unkomplizierte Möglichkeit, mit Studierenden einen Themenbereich z.B. im Praktikum durchbesprechen zu können, auch wenn nicht alle Beteiligten vor Ort sind. Hier ist dann allerdings die Zeit natürlich begrenzt …
Abschließen möchte ich noch ansprechen, was meiner Meinung nach gute Forschung ausmacht, bzw. was die Voraussetzungen dazu sind, und was Lehre damit zu tun hat:
1) einerseits Kreativität – wir müssen als Chemiker*innen Lösungen finden; das Experiment und dessen Ergebnis sind ja nur Mittel, um Fragen zu beantworten. Mir ist es ein Anliegen, diesen wichtigen Aspekt angehenden Chemiker*innen zusätzlich zum Fachwissen mitzugeben. Beispiel: die Schmelzwärme eines Metalls mag kurzfristig interessant sein, viel interessanter ist aber die Frage, was man mit dieser Schmelzwärme alles machen kann. Da gibt es durchaus technologische Anwendungen.
Zur Kreativität gehört auch, dass wir lernen, die richtigen Fragen zu stellen – was interessiert uns, und welche gesellschaftliche Fragestellungen gilt es zu beantworten. Als Lehrende haben wir daher auch die Aufgabe, mit Ihnen den dazu notwendigen, offenen Verstand zu trainieren.
2) Zweitens eine gute Ausstattung – das gilt sowohl für die Forschung als auch für die Lehre. Top-Geräte sind keine Garantie für eine gute Ausbildung, aber sie sind eine Notwendigkeit. Dazu gehört auch, dass wir Ihnen als Lehrende die Kompetenz mitgeben, komplizierte Geräte bedienen zu lernen, Ihnen die Angst davor zu nehmen, und letztlich sich in neue, unbekannte Geräte (selbständig) einarbeiten zu können.
3) Die dritte Säule ist eine hochwertige, fachliche Ausbildung – ich bin derzeit so gut wie ausschließlich in der Lehre tätig, und sehe es daher als meine Aufgabe, in mein Aufgabenfeld auch die notwendige Zeit zu investieren, um den genannten Punkt zu erfüllen (z.B. die genannten Videos, aber nicht nur). Dazu gehört auch, sich selbst das notwendige Wissen anzueignen und ggf. an sich selbst zu arbeiten. Was ich von Studierenden erwarte, muss ich wohl von mir als Lehrender auch selbst erwarten können.
Was sollte sich an der Universität ändern?
Für die ganze Universität zu sprechen, halte ich als Chemiker für etwas anmaßend, aber jeder von uns hat seine Wunschliste, und da gibt es mit anderen Fakultäten wohl auch Überschneidungen. Bereits am Ende der letzten Antwort habe ich ein paar Punkte angesprochen, die in Richtung Wunschliste gehen.
Nun, was wir uns alle wünschen, sind die üblichen „mehr davon“:
mehr Geld
mehr Ausstattung
mehr Personal
mehr Kleingruppen, um effizienter und effektiver unterrichten zu können
mehr Zeit
mehr …
Nun ja, wünschen kann man es sich ja, und Wünsche werden durchaus auch mal erhört.
Recht einfach zu beantworten ist die Frage, was ich definitiv nicht geändert haben möchte: den hohen Anteil an Praxis im Curriculum. Klar, man kann vielleicht manches bereinigen, Inhalte aktualisieren, zeitgemäßer gestalten … das spielt aber auch wieder in neue Ausstattung, mehr Geld usw. hinein. Dem ganzen sind also häufig und leider (natürliche) Grenzen gesetzt. Was ein Mangel an Praxis in der Ausbildung bewirkt, habe ich ganz unangenehm andernorts erleben müssen: hier musste ich am Anfang einer Masterarbeit erst den Umgang mit den einfachsten Glasgeräten unterrichten – das ist an dieser Stelle absolut fehl am Platz. Man kann dem/der Studierenden aber keinen Vorwurf machen, da es im betreffenden Curriculum schlichtweg kaum Praxis gab. Also woher sollte man die dann auch beherrschen?
Was ich mir wünschen würde ist eine gute Verzahnung der verschiedenen Kurse: Vorlesungen, Seminare, Praktika. Welche VO-Inhalte zeigen die Praktika? Warum ist ein bestimmtes Experiment wichtig? Das kann didaktische Gründe haben, um einen theoretisch vermittelten Inhalt auch praktisch und in seinen Auswirkungen zeigen zu können, es kann aber auch praxisnahe Gründe geben, da z.B. ein Syntheseweg einfach wichtig ist und daher zum Grundwissen gehört, oder aber weil ein Messverfahren heute zum Standard gehört.
Ebenso halte ich es für wichtig, abgesehen von absoluten Grundlagenkursen, in denen die essentiellen Basisfähigkeiten erlernt werden, recht bald zu einem Punkt zu kommen, wo auch die Interpretation der erzielten Ergebnisse eine Rolle spielt bzw. zu zeigen, wie sich Ergebnisse in das Thema einordnen. Immerhin wird das einmal der zentrale Punkt der Forschung sein. Ziel einer Forschungs- oder Abschlussarbeit ist es ja nicht, Messergebnisse zu präsentieren, sondern daraus auch Schlüsse zu ziehen und eine Fragestellung zu beantworten bzw. dazu einen Beitrag zu leisten.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen diesbezüglich geht, aber ich versuche daher nach Maßgabe der Zeit auch ein wenig mitanzusprechen, warum wir einen Versuch auf eine bestimmte Art und Weise durchführen, d.h., wie wir von einer Fragestellung eigentlich zum Experiment kommen und was die erhaltenen Ergebnisse bedeuten.
Konkret ist mir daher ein Anliegen und auch ein Wunsch für Ihre Ausbildung, dazu beitragen zu können, dass Sie die Werkzeuge erlernen können, die Sie von einer Fragestellung über das Experiment zum Ergebnis und letztlich zur Antwort bringen. Das alles in ein fachlich bereits anspruchsvolles Studium auch hineinzupacken, ist nicht leicht – und kann an dieser Stelle auch bestenfalls nur andiskutiert werden. Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, dies eventuell auch einmal in einer größeren Runde zu diskutieren und dabei unseren eigenen Chemie-Wunschzettel zu erstellen?
Was war Ihre Lieblings-Interaktion mit einem*einer Studierenden?
Habe ich keine; es ist wie bei jeder Tätigkeit: es gibt schöne, aber auch stressige und nervige Momente, wobei die erfreulichen bei weitem überwiegen. Wie die Zusammenarbeit aussieht oder aussehen kann, hängt also von vielen Faktoren ab, nicht nur von den handelnden Personen. Hier eine Wertung zu machen fände ich also unfair.
Das war nun eine ansatzweise Darstellung, was mich zur Chemie gebracht hat, was mich letztlich zur Lehre gebracht hat und was mich hier bewegt. Eine vollständige Darstellung ist in der Kürze der Zeit – insbesondere dieses Semester ist bei mir sehr dicht – leider nicht möglich.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle viel Erfolg im Studium wünschen, und hoffe, hier das Meine dazu beitragen zu können, auch über das Studium hinaus, denn der Alltag danach ist aus Erfahrung um nichts einfacher – eher im Gegenteil! Vielleicht gelingt es mir sogar, dazu beizutragen, dass Sie es einmal besser machen können als ich.
Zuletzt wünsche ich Ihnen all jenen, die Weihnachten feiern, ein schönes Weihnachtsfest, und Ihnen allen ein paar erholsame freie Tage, an denen Sie kurzfristig auch einmal nicht an Chemie denken dürfen – auch wenn Keksebacken, brennende Kerzen und Punsch durchaus etwas mit Chemie zu tun haben!
Alles Gute und viel Erfolg!
Clemens Schmetterer